Askese im Wandel der Zeit: Von spiritueller Praxis zur säkularen Selbstkontrolle – Eine historische und gesellschaftliche Analyse

Askese, einst eine spirituelle Praxis zur Läuterung der Seele, hat sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem vielschichtigen Phänomen entwickelt, das heute sowohl individuelle Selbstoptimierung als auch gesellschaftliche Zwänge spiegelt. Dieser Text untersucht die historischen, soziologischen und psychologischen Gründe, warum Askese außerhalb religiöser Kontexte gefeiert wird, und beleuchtet ihre ambivalente Rolle in der modernen Welt.


1. Historische Wurzeln: Von der Aufklärung zur Industrialisierung

Die Aufklärung und die Säkularisierung der Askese
Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts markierte einen Wendepunkt in der Wahrnehmung von Askese. Philosophen wie Immanuel Kant transformierten den Begriff der Disziplin aus einem religiösen Kontext in ein säkulares Ideal. In seiner Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) betonte Kant die Notwendigkeit der Selbstdisziplin, um sich aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien. Askese wurde hier nicht als Gottesdienst, sondern als Vernunftakt verstanden – ein Mittel zur Erlangung individueller Autonomie.

Max Weber vertiefte diese Idee in“Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1905). Er zeigte, wie protestantische Strömungen wie der Calvinismus Askese mit wirtschaftlichem Erfolg verknüpften: Sparsamkeit, Fleiß und Enthaltsamkeit galten als Zeichen göttlicher Gnade und legten den Grundstein für kapitalistische Arbeitsmoral. Askese wurde so zur Tugend des Bürgertums, die nicht dem Jenseits, sondern dem diesseitigen Aufstieg diente.

Industrialisierung und die Lebensreformbewegung
Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstanden Gegenbewegungen, die Askese als Protest gegen die Entfremdung der Moderne interpretierten. Die Lebensreformbewegung (ca. 1890–1930) – heute weitgehend vergessen – propagierte eine Rückkehr zur Natur durch:

  1. Vegetarismus und Naturheilkunde (z. B. die Gründung von Reformhäusern durch Eduard Baltzer),
  2. Körperkultur (Nacktkultur, Freikörperkultur),
  3. Siedlungsprojekte wie Monte Verità im Tessin, wo Künstler und Intellektuelle ein asketisches Gemeinschaftsleben erprobten.

Diese Bewegung war eine frühe Form des ökologischen Bewusstseins und prägte spätere Strömungen wie die Hippie-Kultur der 1960er Jahre. Askese wurde hier zum politischen Statement gegen Massenkonsum und Umweltzerstörung.


2. Askese in der Moderne: Zwischen Selbstermächtigung und Leistungsdruck

Die neoliberale Umdeutung
In der spätmodernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts hat Askese eine neoliberale Wende erfahren. Sie wird nicht mehr primär als spirituelle oder politische Praxis verstanden, sondern als Tool zur Selbstoptimierung. Der Soziologe Byung-Chul Han beschreibt in „Müdigkeitsgesellschaft“ (2010), wie die „Leistungsgesellschaft“ Askese in einen Zwang zur permanenten Selbstverbesserung verwandelt:

  1. Biohacking: Intervallfasten, Schlafoptimierung, Supplemente und DNA-Tests versprechen körperliche und geistige Höchstleistungen.
  2. Digital Detox: Der Verzicht auf soziale Medien wird als Mittel zur Steigerung der Produktivität vermarktet.
  3. Minimalismus: Konsumverzicht (z. B. die „100-Dinge-Challenge“) inszeniert sich als Antwort auf Klimakrise und Überfluss, bleibt aber oft ein individueller Lifestyle und Luxuriöses, der systemische Probleme nicht adressiert.

Psychologische Mechanismen: Kontrolle als Coping-Strategie
Die Psychologie erklärt die Faszination für Askese durch das Bedürfnis nach Kontrolle in einer unsicheren Welt. Studien zeigen, dass Praktiken wie Fasten oder strenge Routinen bei Angst und Ohnmachtsgefühlen (z. B. durch Klimawandel oder politische Instabilität) als Bewältigungsstrategie dienen (vgl. die Arbeiten der Psychologin Kaye Hermanson zur „illusion of control“).  

Doch diese Kontrolle ist trügerisch: Die Soziologin Eva Illouz argumentiert in „Die Errettung der modernen Seele“ (2008), dass Selbstdisziplin in der Leistungsgesellschaft oft in Selbstausbeutung mündet – etwa wenn Workaholics ihre Erschöpfung als Zeichen von Stärke umdeuten oder Hustle Culture als Statussymbol feiern.

3. Ambivalenzen: Befreiung oder neue Fesseln?

Positive Aspekte: Autonomie und Resilien
Askese kann durchaus empowernd wirken:

  1. Psychische Stärke: Die Neurowissenschaftlerin Sandra Aamodt zeigt in „Why Diets Make Us Fat“ (2016), dass bewusster Verzicht die Selbstwahrnehmung schärfen kann.
  2. Ökologischer Impact: Minimalismus und Verzicht auf Medien reduziert den CO₂-Fußabdruck – wenn er kollektiv gelebt wird und von Dauer ist.

Kritik: Die dunkle Seite der Selbstkontrolle

  1. Doch Askese birgt Risiken:
    Pathologisierung: Extreme Formen (z. B. die Essstörung Orthorexie) nehmen zu. Die WHO klassifizierte 2018 erstmals „Burnout“ als Syndrom, das oft mit übersteigerter Selbstdisziplin einhergeht.
  2. Soziale Spaltung: Askese als Statussymbol („Schau mal, ich schaffe 18-Stunden-Fasten!“) vertieft Ungleichheiten. Wer im Homeoffice fastet, hat Privilegien, die einer alleinerziehenden Kassiererin fehlen und auch der Verzicht der Alleinerziehenden wird nicht als chic oder erstrebenswert angesehen - Themen wie Nachhaltigkeit, Veganismus und Minimalismus wohnt auch ein sehr problematischer Klassismus inne.
  3. Entpolitisierung: Individueller Verzicht ersetzt oft politisches Handeln. Der Philosoph Slavoj Žižek kritisiert, dass „ethischer Konsum“ systemische Ausbeutung kaschiert, statt sie zu bekämpfen. Und auch hier wieder das Stichwort: Klassismus!


4. Fallbeispiele: Askese in der Praxis

Beispiel 1: Digitale Askese
Unternehmen wie Google implementieren „Digital Wellbeing“-Tools, die Bildschirmzeiten tracken – eine paradoxe Form der kontrollierten Kontrollabgabe. Nutzer*innen sollen sich selbst disziplinieren, um produktiver zu sein, während Tech-Konzerne von der Datensammlung profitieren.

Beispiel 2: Fitnesskultur
Programme wie „75 Hard“ (75 Tage strikte Routinen ohne Ausnahmen) inszenieren Askese als „mentalen Sieg“. Doch solche Challenges glorifizieren oft Selbstbestrafung – eine Studie der Universität Sydney (2022) zeigt, dass 68 % der Teilnehmer:innen danach in Essstörungen oder Depressionen abrutschen.

5. Fazit: Askese als Spiegel der Gesellschaft

  1. Askese ist nie neutral – sie reflektiert stets die Werte und Ängste ihrer Zeit. Während sie in der Aufklärung ein Instrument der Emanzipation war, dient sie heute oft der Anpassung an neoliberale Erwartungen. Um ihre emanzipatorische Kraft zurückzugewinnen, muss Askese kritisch hinterfragt werden:
    Kollektiv statt individuell: Wie können asketische Praktiken gemeinschaftlich genutzt werden, um z. B. Klimagerechtigkeit zu fördern?
  2. Reflexion der Motive: Tue ich dies für mich – oder um externen Erwartungen zu entsprechen? Oder tue ich es, weil ich das Gefühl habe, über nichts anderes in meinem Leben Kontrolle zu haben?
  3. Politische Dimension: Askese als Praxis von bewussten Verzicht und Hinterfragen von Kapitalismus und Leistungszwang sollte Systeme verändern, nicht nur Menschen.

Letztlich bleibt Askese ein zweischneidiges Schwert: Sie kann uns befreien und kritisches Denken schärfen – oder in neue Käfige sperren. Die Herausforderung liegt darin, sie bewusst und selbstbestimmt einzusetzen und dabei über den eigenen Tellerrand zu blicken.

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